
Rechtskraft und Abänderbarkeit von SchKG Verfügungen
Isaak Meier
Ein Entscheid des Obergerichts schafft Klarheit
Ein neuer Entscheid des Zürcher Obergerichtes stellt klar, dass auch Verfügungen des SchKG nicht nur in formelle, sondern auch in materielle Rechtskraft erwachsen (Urteil OG vom 4. November 2020, PS200203).
Die rechtskräftigen Entscheide können jedoch von der SchKG Behörde (Betreibungsamt, Konkursamt, amtliche oder ausseramtliche Konkursverwaltung, Sachwalter und Liquidatoren im Nachlassvertrag mit Vermögensabtretung) abgeändert werden, wenn sich der massgebliche Sachverhalt ändert oder neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen. Bisher wurde diese Ansicht in Lehre und Praxis lediglich für die Entscheide der Aufsichtsbehörden vertreten.
Der Entscheid macht nun deutlich, dass diese Rechtslage auch für die (erstinstanzlichen) Verfügungen der SchKG Behörden gilt. Dass SchKG Verfügungen an geänderte Umständen angepasst werden können, steht allerdings in Widerspruch zur gefestigten Praxis des Bundesgerichts, dass das Betreibungsamt auf Feststellungen über die Pfändbarkeit oder Unpfändbarkeit von Vermögenswerten, auch wenn sich die Umstände ändern, nicht mehr zurückkommen könne.
Zur Einordnung dieses Entscheides seit hier folgendes ausgeführt:
1. Formelle und materielle Rechtskraft von Verfügungen des SchKG
Der zitierte Entscheid stellt zunächst klar, dass auch SchKG Verfügungen in materielle Rechtskraft erwachsen, wenn dagegen innert Frist keine Beschwerde erhoben wurde oder die Beschwerde erfolglos ist. Dies ist denn auch die wohl herrschende Meinung in Lehre und Praxis (BGE 133 III 580, 17.8.2007, E. 2.1.; BGer 5A_312/2012, 18.7.2012, 4.2.1.;, E.2.4. mit weiteren Zitaten). Gleicher Ansicht scheint die Lehre zu sein; allerdings beziehen sich die Äusserungen soweit ersichtlich stets auf die Beschwerdeentscheide (BSK SchKG I - Cometta/Möckli, Art. 21 N 15; KUKO SchKG - Dieth/Wohl, Art. 21 N 5; Lorandi, Betreibungsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeit, Basel 2000, Art. 20a N 87 f.; CR LP - Pauline Erard, art. 20a N 8; a.A. wohl Amonn/Walther, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 6 N 74 allerdings ohne Bezugnahme auf die dem widersprechende Bundesgerichtspraxis ).
Die materielle Rechtskraft ist jedoch auf das laufende Verfahren beschränkt (siehe die vorangehenden Zitate). Was unter letzterem zu verstehen ist, kann in der Einzelzwangsvollstreckung streitig sein, wenn sich mehrere Einzelverfahren in den Pfändungsgruppen nach Art. 110/111 SchKG miteinander verschmelzen. In BGE 133 III 580, 17.8.2007 hat das Bundesgericht geklärt, dass nur aber immerhin das Verfahren betr. eine Pfändungsgruppe ein einheitliches Verfahren bilde, in dem SchK-Verfügungen in materielle Rechtskraft erwachsen. Konkret bedeutet dies namentlich, dass rechtskräftige Verfügungen über die Pfändbarkeit von Vermögenswerten lediglich für die Gläubiger innerhalb der Pfändungsgruppe, nicht jedoch für die Gläubiger einer anderen Pfändungsgruppe verbindlich sind. Gilt ohnehin keine materielle Rechtskraft, ist natürlich auch die Fragen der Abänderbarkeit kein Thema.
2. Abänderbarkeit von SchKG - Verfügungen bei geänderten Umständen
Nach dem zitierten Entscheid können materiell rechtskräftige SchKG Verfügungen abgeändert werden, wenn sich die entscheidungsrelevanten Umstände ändern
Die entspricht zunächst der konstanten Praxis des Bundesgerichts (Bundesgerichtspraxis BGE 133 III 580, E.2.1.; BGer 5A_597/2008, 27.1.2009; E. 3.3.4.; ebenso mit Darstellung des Meinungsstandes ZR 119/2020, 286, E.2.4.). Dieser Ansicht ist wohl auch die h.L.; die wenigen Äusserungen beziehen sich jedoch wiederum wie bei der Frage der Rechtskraft lediglich auf die Beschwerdeentscheide (namentlich Lorandi, Betreibungsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeit, Basel 2000, Art. 20a N 88 er spricht dabei von der "clausula rebus sic stantibus"). Im Sinne der im Zivilprozessrecht gebräuchlichen Terminologie handelt es sich bei geänderten Umständen um sog. echten Noven.
Bezeichnend ist dabei, dass die h.M. wohl annimmt, dass diese Abänderungsmöglichkeit grundsätzlich für jede Verfügungen gilt. So wurde die Frage der Abänderbarkeit infolge geänderter Umstände namentlich in folgenden Fällen diskutiert: Verfügung betr. die Pfändbarkeit von Vermögenswerten innerhalb der Pfändungsgruppen: BGE 133 III 580, 582, E. 2.1; Steigerungsbedingungen: ZR 119/2020, 286, E.2.4; Zahlungsbefehl: BGer 5A_597/2008, 27.1.2009; E. 3.3.4. In keiner dieser Fälle erfolgt allerdings eine Abänderung aus dem genannten Grunde.
Zu dieser Ansicht steht in Kontrast die konstante Praxis des Bundesgerichts, dass die Sachpfändung, betr. die Frage der Unpfändbarkeit nach Art. 92 SchKG nicht an veränderte Umstände angepasst werden könne (BGE 98 III 31, 32 ff.; 83 III 31, 33 f.; bestätigt in BGer 7B.142/2006; ebenso die h.L.: Art. 92, N 60; SK SchKG - Winkler, Art. 92 N 18. Hierzu N 139). Ob diese Ausnahme von der Abänderbarkeit von SchKG- Verfügungen gerechtfertigt ist, müsste näher untersucht werden.
3. Abänderbarkeit von SchKG - Verfügungen bei Vorliegen von neuen Tatsachen und Beweismittel
Im Weiteren können nach diesem Entscheid rechtskräftige SchK-Verfügung gestützt auf sog. unechte Noven auf Antrag einer Partei abgeändert werden, wenn erhebliche neue Tatsachen und Beweismittel auftauchen, welche die Partei früher mit zumutbarem Aufwand nicht beibringen konnte. Im schweizerischen Verfahrensrecht handelt es sich dabei um die klassischen Revisionsgründe. Im Ergebnis dürfte ist dies wohl auch die herrschende Ansicht in der Lehre.
Die Aussagen in Lehre und Praxis zur Frage der Revision in diesem Sinne beziehen sich zwar wiederum fast immer auf die Frage, ob ein Beschwerdeentscheid revidiert werden könne (Lorandi, Betreibungsrechtliche Beschwerde, Art. 20a N 108; Jent, Das kantonale Verfahren nach Art. 20a Abs. 3 SchKG, BlSchK 2013,89, 105 ; vgl. auch BGer 5A_198/2015, 28.5.2015, E.3.1 ), und nicht darauf, ob die erstinstanzliche SchK-Behörde ihren eigenen Entscheid revidieren können (so aber der zitierte Entscheid ; ebenso schon Meier, Verwaltungsverfahren, 49 ff.). Es ist jedoch klar, dass letzteres ebenfalls gelten muss, wenn ein Beschwerdeentscheid revidiert werden kann. Ein nicht angefochtener Entscheid kann nicht eine grössere Bestandkraft haben als ein angefochtener Entscheid.
Unklar ist betreffend die Revision, welche Rechtsgrundlage hierfür direkt oder analog zur Anwendung kommen soll. Für die Revision von Beschwerdeentscheide ist nach h.M. gestützt auf Art. 20a Abs. 3 ZPO das kantonale Recht massgebend sei (BSK SchKG I - Cometta/Möckli, Art. 17 N 66; Lorandi, Betreibungsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeit, 2000, Art. 20a N 108; Jent, 92; das Bundesgericht hat diese Frage bisher offen gelassen BGer 5A_198/2015, 28.5.2015, E.3.1. mit Zusammenfassung des Meinungsstandes). M.E. ist jedoch anzunehmen, dass auf jeden Fall für die Revision einer erstinstanzlichen SchK-Verfügung aber richtiger Weise auch für das Beschwerdeverfahren nur das (ungeschriebene) Bundesrecht massgebend sein kann.
Die zentralen Fragen der Rechtskraft und ihrer Durchbrechung können entgegen der gerade zitierten h.M. nicht vom Verweis auf das kantonale Recht in Art. 20a Abs. 3 SchKG erfasst sein. Bekanntlich war schon unter dem alten kantonalen Zivilprozessrecht unbestritten, dass die Rechtskraft Teil des (ungeschriebenen) Bundesrechts zur Sicherung der einheitlichen Anwendung des Bundesprivatrechts sind bzw. waren (hierzu statt viele Hans Ulrich Walder-Richli, Zivilprozessrecht, 4. Aufl. Zürich 1996, 272). Dies muss m.E. auch für die Frage der Revision von SchK-Verfügungen, mit der die materielle Rechtkraft wieder aufgehoben wird, gelten.
Prof. Dr. Isaak Meier